Zum Ende des zweiten Jahrtausends hin wurde eine neue Redensweise geschaffen, die sich in deutscher Sprache wie folgt anhört: "Ich vertrete dezidiert die Meinung, dass ich mich von dieser Situation persönlich betroffen fühle, weil ich mit ihr nicht umgehen kann. Ich spüre mich nicht mehr und mein Bauch sagt mir, dass ich meinem Ego viel zu wenig Beachtung geschenkt habe. Ich sollte mit den Gefühlen der anderen besser umgehen können, dann würde mein Karma um vieles erleuchteter werden und ich hätte meine schlechten Lebensgefühle positiv bewältigen können. Doch eigentlich stimmt's für mich total, ich weiss, wo ich stehe. Man muss eben loslassen können, sich keine Sorgen machen, leben und mit sich selbst umgehen können."
Vor so viel Ergriffenheit der Sprache muss ich mich jetzt zurückziehen, denn meine Sprachgewalt ist diesen Ergüssen in keiner Weise gewachsen. Ich fühle mich plötzlich sprachlich von allen guten Geistern verlassen. Niemand, wirklich niemand, redet mit mir heutzutage noch normal, alle haben diesen ungeheuer einfältigen Slang drauf. Als Alternative kann man sich auch darauf verlegen, sich auf die lebenslustigen, megageilen Sprachspiele der Jugendlichen einzulassen und den frohmachenden Lifestyle der dümmsten Art in der Geschichte zu verinnerlichen, um dann nur noch in der Sprache der Pubertären zu reden.
Kürzlich habe ich mich mit meiner Freundin über diese Sprach-Phänomene unterhalten, auf dem Weg rund um den Pfäffikersee hinter Zürich, begleitet von einem aufgestellten Hund namens Leon, der sich um viel intelligentere Dinge kümmerte in der Zwischenzeit. Wir haben also versucht, diese Sprachhülsen des Psycho-Slangs zu interpretieren. Unsere etwas willkürlichen Übersetzungen haben zu folgenden Resultaten geführt:
- Betroffenheit: "Ich fühle mich betroffen von....dies und jenes macht mich betroffen..." Deutsch: Ich weiss nicht, wie ich diese Situation bewältigen soll, ich fühle mich ohnmächtig, weil ich das Reale nicht verstehen kann.
- Persönlichkeit: "Ich persönlich bin der Meinung....persönlich bin ich betroffen von....er weiss nicht, dass mich dies persönlich verletzt hat..." Deutsch: Ich bin mir meiner Meinung derart unsicher, dass ich sie mit der Kraft meiner ganzen Person schützen muss.
- Verhalten: "Er kann eben mit seinen Gefühlen nicht umgehen... wir können miteinander nicht mehr umgehen....wenn sie nur mit sich umgehen könnten..." Deutsch: Ich bin von meinen Gefühlen so beherrscht, dass ich sie verstandesmässig nicht analysieren kann.
- Wahrnehmung: "Wenn ich Dich nur noch spüren könnte...wir müssen jemanden spüren, wenn wir ihn verstehen wollen..." Deutsch: Ich weiss mein Verhältnis zu anderen nicht in klare Worte zu fassen.
- Denken: "Ich denke nur noch aus dem hohlen Bauch heraus, sonst würde ich verzweifeln..." Deutsch: Das Hirn hat beim Denken abgesagt, deshalb hilft nur noch "Bauchdenken".
- Stimmigkeit: "Ich denke, so stimmt es für mich...stimmt es für dich, wenn ich sage...hoffentlich stimmt es für uns alle..." Deutsch: Ich verstehe eigentlich nicht, wovon die Rede ist, doch ich habe mich entschieden, es richtig interpretiert zu haben.
- Intuition: "Ich spüre intuitiv, wenn ich das Richtige tue...Meine Intuition sagt mir, wenn ich etwas Falsches denke..." Deutsch: Die Sachlage ist mir derart unverständlich, dass ich den Verstand besser gar nicht erst einschalte.
- Freiheit: "Ich muss loslassen können....es ist lebensentscheidend, wenn du endlich loslässt..." Deutsch: Ich habe eine Buch gelesen, Lola, Olala oder so, und nun bin ich frei. Ich habe noch genau die gleichen Probleme wie zuvor, doch nun bin ich fähig, diese zu verdrängen und mir einzubilden, das Leben im Griff zu haben.
- Beelendung: "Das Verhalten dieser Chaoten beelendet mich ganz persönlich...es beelendet mich, mit ansehen zu müssen, dass..." Deutsch: Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, welche wertvollen Gedanken in Köpfen von anderen, eben den Chaoten, vorhanden sein könnten. Dabei sieht sich der Sprechende als schicksalsgegebener Wahrheitsfinder der Gegenwart.
- Abgrenzung: "Man muss sich abgrenzen können...man muss fähig sein, sich von allen Übeln abzugrenzen..." Deutsch: Meine eigene Meinung ist dermassen festgefahren und "überragend", dass ich einen geistigen Zaun gegen bessere Gedanken hochziehen muss.
- Sorglosigkeit: "Sorge dich nicht, lebe...Du sollst leben, statt dir ständig Sorgen zu machen..." Deutsch: Lebe sorglos und blind vor dich hin, dann sieht dein Leben die Realitäten nicht mehr und dir geht es sofort besser, bis es dir und deinen Nachkommen viel schlechter gehen wird wegen deiner Sorglosigkeit. Dies ist die Hauptthese der heutigen Sorglos-Gesellschaft.
Es ist leicht, sich lustig zu machen über die Ideen- und geistige Lustlosigkeit eines Slangs der Alltagssprache zum Ende des zweiten Jahrtausends und dessen Ausfluss: die Gedankenlosigkeit der gesprochenen Sprache und der Wichtignehmung des Nebensächlichen durch die Medien. Es ist schwierig, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und ein Denken zu fordern, dass der Komplexität des realen Geschehens auf dieser Welt gewachsen wäre.
Vielleicht überschätze ich ständig die Fähigkeiten der Menschen, die mich umgeben, in Bezug auf ihre Erkenntnis, was wesentlich und was unwesentlich sei. Doch wenn ich dies nicht fordern darf, am Ende so zahlreicher Philosophien in der Menschheitsgeschichte des Denkens, was soll ich dann noch fordern dürfen? Vielleicht die gewollte Verblödung nicht nur in der Sprache, sondern im Denken ganz allgemein? Dass dieser Vorwurf schon zu allen Zeiten erhoben worden ist, macht die Sache nicht besser. Nur: So spät wie heute war es in Bezug auf die Forderung nach mehr Geist und Intelligenz noch nie. Wir stehen kurz vor einem Ende der ganz besonderen Art: dem Ende unserer Art. Und damit wird auch das Zeitalter der falschen Betroffenheit und der leeren Sprache endlich ein Ende nehmen.
