Kürzlich musste ich eine Arbeit erledigen im Konferenzraum eines Wirtschaftsrechtsanwaltes in Zürich. Zwei lange Wände waren vollgepflastert mit einer Bibliothek, die fast nur Fragen des Rechts, hauptsächlich des schweizerischen und des deutschen Rechts und zusätzlich internationale Rechtsnormen, betrafen. Ich nahm einen riesigen Band aus dem Regal, den ich kaum tragen konnte und las: "Kurzkommentar zum Internationalen Personenrecht", ein Schmöker von etwa 3000 Seiten. Ich fragte mich unwillkürlich, wie denn ein Langkommentar aussehen würde. Wahrscheinlich würde jener das ganze Bücherregal allein verstellen. Mir graute es für einen Moment und ich schauderte, wie von einem kalten Windhauch erfasst und erahnte plötzlich, wohin wir gekommen sind mit der menschlichen Rechtssprechung.
Im Laufe der Zeit der Menschheitsentwicklung ist ein riesiges, endlos ausuferndes Rechtssystem entstanden, um die Reststellung der Menschen zu regeln, wenigstens jener Menschen, die über genügend Geld verfügen, um Recht zu bekommen. Alle anderen sind somit recht eigentlich rechtlos und armselige Trottel der freien Verfügbarkeit. In diesem Sinne, und dies ahnte ich schon lange bei meinen Besuchen in fernen "exotischen" Ländern in Asien und Afrika, leben die meisten Menschen in einem rechtsfreien Raum und versuchen, so vor sich hin zu vegetieren, dass sie nirgends Anstoss erregen, vor allem nicht bei den Mächtigen, die das Recht auf ihrer Seite wissen. So gesehen bekommt das Rechtssystem der Welt plötzlich einen anderen Anschein, eine Fragwürdigkeit, deren Schärfe kaum in Worte zu fassen ist. Meine Gedanken hier sind nur ein schwacher Versuch, mich rechtlich auf die Seite der Deprivierten zu stellen.
Doch zuerst: Wie kam es zu dieser unendlichen Verästelung des Rechtsgedankens in all diesen vor mir ausgebreiteten Werken des Rechts? Es geht wohl um Folgendes: Sämtliche Eventualitäten des Lebens und der daraus fliessenden Handlungen sollen abgesehen oder sogar vorausgesehen werden. Das Recht ist einzuordnen, zu regeln, auszuüben, kurz, es ist Recht zu sprechen. Das Werk des Rechtsgedankens spricht für sich selber, es hat sich verselbständigt. Wohin das führen kann, sieht man im heutigen Amerika des Nordens, wo das Recht irreal und unmässig geworden ist. Es ist abzusehen, dass reiche Leute bald einmal die Hälfte ihres Einkommens in Rechtshändel investieren werden und dabei steinreich werden oder aber verarmen. Es genügt eine heisse Tasse Kaffee auf dem Knie einer Dame und ein Barbesitzer ist im Konkurs.
Das ist es, worum es wirklich geht: Nach einer Anwendung der Rechtssprechung hat in der Regel der eine Mensch etwas mehr Geld und ein anderer etwas weniger, der Ermordete ist ohnehin tot und der Täter wird vom Staat, das heisst, den Steuerzahlern dieses Staates, ein Leben lang versorgt, dies im doppelten Sinne verstanden: hinter Wände gebracht und fürsorglich wie ein Kind mit allem Nötigen versehen. Nur das "Recht" handelt offenbar plausibel und macht allen Beteiligten und Unbeteiligten klar, was überhaupt vorgefallen ist. Alles ein grosser Witz, doch die optische Rechtstäuschung hat ihr Werk getan. Komisches Recht. Macht reich, macht arm, bestraft die Dummen, begünstigt die Reichen, hilft den Opfern nicht, dafür umso mehr den Tätern. Das Recht hat sich verselbständigt und keiner scheint zu wissen, wie dies geschehen konnte. Kein einziger? Das ist doch so ein Schreiberling, dieser Delavy, und der macht sich jetzt mit Schweissperlen zwischen den Augen daran, die Sache zu klären.
Was eigentlich sollte es sein: "Das menschliche Recht"? Jenseits von philosophischer Rechthaberei? Es sollte sein: Eine Rechtsordnung, die nicht zahlbare Regelungen des Einzelnen, sondern Gerechtigkeit für alle zum Ziele hat. Also: Entreicherung der masslos Reichen, Bereicherung der schuldlos Armen, Entsorgung der in jedem Sinne verstandenen Kriminellen und Täter, Schutz der Opfer vor diesen kriminellen, politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Tätern, Schutz der Schwachen vor den Mächtigen aller Arten der Politik, Wirtschaft und Militär, Schutz der machtlosen Natur und der unschuldigen Tiere vor der anmassenden Menschen-Allmacht, diesem Krebsgeschwür, das sich in Windeseile über den Planeten verbreitet hat zum Schaden von allem Übrigen. Eine Rechtssprechung, die diesen Namen verdient, schützt alle Menschen in gleicher Weise, ohne Beurteilung von Geld- und Geistesmacht. Nur eine Rechtssprechung, die für alle gilt, ist ethisch und moralisch vertretbar, sonst wird sie zum Instrument der Unterdrückung für die Privilegierten zum Nachteil des Rests dieses Erdballs.
Sprechung von Recht und Geld zu Gunsten jener, die beides schon haben, ist obszön und deshalb werden die Unterprivilegierten eines Tages Sturm laufen gegen ein idiotische System des "Rechts", das vorerst einmal die Falschen begünstigt. Das haben auch jene Gegner von Wirtschaftsgipfeln begriffen, die den Mächtigen Paroli bieten möchten, doch eigentlich nur ahnen, was sie tun. Denn die geistige Erfassung dessen, was sie bekämpfen, übersteigt in der Regel die Geistesfähigkeiten dieser zu recht empörten Menschen. Deshalb auch bemühe ich mich immer wieder um Erklärungen: Damit der Schein vom Sein klarer zu trennen ist und Begründungen für lebenswertes Leben in Schriftform vorliegen. Ganze Wände voll des "Rechts" sind wert- und sinnlos, wenn nicht Ethik, Moral, Gerechtigkeit, Ausgleich, Schutz von allem was schwach ist, die oberste Zielsetzung und Triebfeder des Handelns ist. Diese unsere Geld-Rechthaberei, geduldet von Gutmenschen, missbraucht von Bösmenschen, ist ein weiterer Skandal in der menschlichen Geistesgeschichte und kaum ein Mensch hat es je gemerkt, weil alle glauben, eines Tages zu den rechtlich Bevorteilten und Bevorzugten zu gehören.
Leider sterben die meisten Menschen, bevor für sie Recht gesprochen worden ist und nachdem sie ein Leben lang immer wieder Opfer dieser Rechtsideologie der Stärkeren geworden sind, ohne es je richtig bemerkt oder gar geistig verarbeitet zu haben. Diese Akzeptanz des falschen Denkens, eines falschen Rechtsgedankens, wird eines nicht zu fernen Tages über Bord geworfen werden, nämlich dann, wenn die Aufklärung endlich auch die Schwachen und "Dummen" eingeholt haben wird. Doch davor fürchten sich die Privilegierten keineswegs, denn sie wissen, dass sie die Mittel haben, dass auch dann wieder das Recht zu ihren Gunsten gesprochen wird und Armeen von Polizisten und Militärs zu ihren Gunsten intervenieren werden, Armeen, die eigentlich schon immer nur Schutzgarden der Privilegierten waren, nicht erst seit Genua im Sommer 2001, sondern seit Anbeginn des Bestehens eines Rechtssystems für die menschliche Spezies.
