Es war eine schwüle und heisse Sommernacht. Ich erwache schweissgebadet. Wie üblich, kurz vor dem Sonnenaufgang, hatte ich von Dingen geträumt, die ich nicht beherrsche, wie zum Beispiel Ordner, die ständig verschwinden, Kunden, die am Tisch sitzen und warten, dass ich etwas sage und da kommt kein Ton heraus, Autos, die im Kreis rumfahren und kein Ziel finden und auch ich habe vergessen, wo das Hotel ist und muss nun ewig.... wie gesagt, der übliche Albtraum vor dem Erwachen. Ich schwitze wie verrückt und halte deshalb die Beine ins Freie vor das offene Fenster. Draussen dämmert es schon und ein frischer Luftzug weht herein und kühlt den heissen Körper. Es wird immer heller und im Wandspiegel weichen die Dämmerung und das Grau einem Dunkelrot und allmählich wird die Himmelsfarbe immer gelber und heller. Doch erstaunlich: Dieser Einfluss der Sonne und der Wärme auf die Erde bewirkt, dass die Bodenluft angehoben wird, den Aussenwänden des Hauses empor kriecht und mit aller Macht als kalter Windhauch ins Zimmer stürzt wie ein Wasserfall. Langsam fröstelt es mich, ich ziehe die Beine wieder unter die Decke an die wohlige Wärme und versuche noch etwas zu schlafen.
Stattdessen stürmen plötzlich neue Gedanken auf mich ein: Kurios, wie diese weit entfernte Sonne so direkt auf mein Wohlbefinden einwirken kann. Auf mein Wohlbefinden? Nein: Die ganze Erde, alle Luft- und Wassermassen werden in Bewegung gehalten von dieser Sonne, die Verdampfung der Meere, die Wolkenbildung, der Regen, die Stürme, die Trockenheiten, die Oktankatastrophen, das ganze Klima wird bewegt von diesem kleinen heissen Kügelchen im Weltall, das für uns Menschen in einer Entfernung liegt, die wir uns eigentlich noch nie genau vorstellen konnten. Und da verändert sich der Blickwinkel plötzlich und ich stelle mir vor, wie die Erde von der Sonne aus wahrgenommen wird. Also, wenn die Sonne nicht heiss wäre, sondern ein grosser Planet, dann würde man die Erde von dort aus kaum wahrnehmen. Etwa so, wie wir die Venus des Nachts im Sternenrund sehen. Und natürlich wäre die Erde immer im Licht, denn die Nacht und der Tag werden nicht von der Sonne gemacht, sondern durch die Erdumdrehung erzeugt. Ebenso sind die Jahreszeiten kein Resultat der Sonne, sondern zu erklären durch die schiefe Aufhängung der Erde in ihrer ungleichen Bahn um die Sonne im Lauf eines Jahres, was Sommer, Herbst, Winter und Frühling - und in zeitlicher Abfolge je nach Lage auf der Erde unterschiedlich - provoziert.
Die Sonne ist also einfach aufgehängt in ihrem Magnetfeld des Universums, erwärmt ihre Umgebung und dieses Kügelchen Erde, gleichmütig, in alle Ewigkeit hinein, jedenfalls aus der zeitlichen Wahrnehmung der Bewohner der Erde, die auch in Bezug auf das Zeitgefühl neben allen Schuhen stehen, nicht nur in der erwähnten Dimension der räumlichen Vorstellung ihres Seins im Universum. Und doch ist diese für uns wichtige Sonne nur wieder ein Punkt in der immensen Milchstrasse und diese wiederum nur ein Punkt unter den Milliarden von Galaxien und diese wieder nur ein Minisystem in der Unendlichkeit der unverstandenen Realität, eines mysteriösen Gottesentwurfes, den kein Mensch je verstehen wird.
Inzwischen ist es sieben Uhr geworden und ich werde jäh vom Grossen ins Kleine zurück geholt. Der Radiowecker tritt in Aktion und verbreitet die Morgennachrichten: Israelis dringen in Palästina ein und töten einige Araber. George W. Bush entscheidet, die Förderung von Erdöl als letzte Ressourcen seines Landes in Naturschutzgebieten im fernen Alaska zusammen zu kratzen, in irgendeinem maroden Bergwerk in Russland gibt es Tote, der Stolz der grossen Sowjetunion ist vollends im Eimer, irgendein Schweizer Magistrat wurde von einem reichen Griechen mit Ferien beschenkt und soll nun zurücktreten und ein hohes Regierungsmitglied bezeichnet sein Amt als Tollhaus, weil verschiedene Beamte offenbar Belege gefälscht hätten ... und tatsächlich, ich befinde mich plötzlich wieder im System "Menschen", ein Tollhaus, das wir offenbar gerne und ohne jede Übersicht auf diesem Kügelchen im Weltall installiert haben.
Vom gedachten Grossen wird diese reale Welt im Erwachen immer kleiner und kleiner, bis sie fast ganz zu verschwinden droht. Nichts mehr da von Sonne, Distanzen, Raum und Zeit, nur noch selbstgemachte Sorgen und Nöte einer Spezies der speziellen Art des Seins, eine Spezies, die vom wahren Sein keinen Schimmer mehr hat und den Verstand ständig mit Unwesentlichem überlagert. Was bleibt, ist "der Mensch in Mittelpunkt", doch welcher Mittelpunkt gemeint ist, weiss kein Mensch. Alle fühlen sich erhaben und keiner versteht etwas. Die gelebte Realität wird nur noch verstanden als ein Funktionieren im bestehenden System der Kleingeisterei des täglichen Malochens und Gierens um Aufmerksamkeit. Die eigenen Befindlichkeiten sind das zentrale Thema im Hirn eines jeden Menschen und das Grosse ausserhalb dieser Wahrnehmung tritt in den Hintergrund und droht noch ganz zu verschwinden.
Diese kleine Sicht der Welt ist fatal: Die ganze Literatur, die Medien, die Radio- und TV-Programme, alle Gedanken drehen sich nur noch um wenige Sachen, eigentlich nur noch ums Geld, um die Vorteile, die der einzelne Mensch erlangen kann, die Nachteile, die er vermeiden muss, die Nöte des Tages mit sich und der Umwelt, die Pflege seiner Emotionen und die Beeinflussung der Mitmenschen zu seinen Gunsten. Der universelle Geistesfluss kommt immer mehr ins Stocken. Wir sind nicht mehr in der Lage zu wissen, wer wir sind, wo wir sind, was wir wollen und wie unsere Zukunft sein könnte. Noch nicht einmal der Gedanke kommt uns in den Sinn, dass wir uns auf einer sich drehenden Kugel befinden mit einer Sonne, die alles bewegt, was uns umgibt, wenn nicht gerade eine Aufklärungssendung im Fernseher wieder einmal die Sache darstellt. Und selbst dann nehmen wir dieses reale Geschehen nicht wahr als wesentlichen Bestandteil unseres Seins, sondern als Nebenschauplatz der Existenz, der eigentlich zu vernachlässigen ist.
Der Geist wird immer ärmer und die Realität des Grossen und Ganzen verschwindet aus unseren Hirnen, um Platz zu machen für alles Unwesentliche, das uns von den wahren Problemen der Heimat Erde immer weiter entfernt, je deformierter wir im Geist werden und je weniger wir in der Lage sind, die Realität des Seienden zu verstehen. Die universelle Aussenwelt, die für unsere Existenz schlussendlich massgebend ist, wird von niemandem mehr bewusst wahrgenommen und genau dies hat eine Rückwirkung auf den Umstand, dass in modernen Zeiten die Philosophie immer mehr an Gewicht verliert in der Gewichtung des Geistes. Wo das Unwesentliche unser Sein regiert und das Wesentliche nicht mehr wahrgenommen wird, entsteht nicht nur eine geistige Wüste, sondern viel schlimmer: Wir steuern direkt hinein in eine selbsterzeugte Katastrophe des reellen Chaos, der Unkontrollierbarkeit unserer Wirklichkeit. Die Sonne wird nicht mehr für uns scheinen.
