Grenzen des Denkens

Denke, nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn du denkst, dann denkst du nur, du denkst, doch denken tust du nie." Mein Freundin Rita beliebt zu blödeln. Auf meine Aufforderung, auch etwas zu sagen über die Grenzen des Denkens, macht sie sich auf diese Art lustig über meine heroischen Versuche. "ICH bin schliesslich der universelle Denker, das Universalgenie", fordere ich sie heraus. Sie grinst: "Selbstgebaute Universalgenies gibt es wie Sand am Meer. Jeder Mensch ist überzeugt, in sich ein Genie zu tragen, doch selbst die Genies sind keine, sie verkaufen die Kunst ihrer speziellen Fähigkeiten nur besonders geschickt. Zwei Drittel seines Lebens verbringt der Mensch mit Gedanken, welche das eigentliche Leben nicht wahrnehmen kann, sinnlose Verschleuderung von Geisteskapazitäten, die niemandem etwas nützen." Ich entgegne ihr, dass sie die Denkkapazitäten der Menschen doch sehr gering schätze, wo doch nun wirklich Hoffnung bestehen würde, dass einige Menschen zu genialen Geistesblitzen fähig wären.


"Betrachten wir doch die Sache bei hellem Licht", meine ich. "Alle hohen Verdienste der Menschheit stammen von Männern, in der Kultur, in der Wissenschaft, in der technologischen Entwicklung, ja sogar in Politik und Wirtschaft hatten immer nur die Männer das Sagen. Und nun willst du mir weismachen, dass die Frauen die besseren Denker wären?" Rita ruft den Hund, der in ein reissendes Gewässer zu plumpsen droht, und reisst einer Wiesenblume den Kopf ab: "Ich glaube, dass die Männer der Welt eine Lektion brauchen. Was haben sie zustande gebracht, wenn man das Ende bewundert? Männer sprechen und schreiben andauernd von Liebe, die Frauen lieben, Männer streben immer die Macht an und wenn sie die Macht über andere haben, wissen sie nichts damit anzufangen. Die Frauen beginnen schon gar nicht mit diesem Wahn, weil die Belastung der Macht viel zu viele falsche Energien bindet und das Ende nicht absehbar ist. Männer kriegen Nobelpreise für ihre denkerischen Leistungen und am Ende müssen wir Frauen zum Schutz des Lebens aufrufen, weil alles aus dem Ruder zu geraten droht. Selbst bei der Wirtschaft verstricken sich die Männer in Wachstumsphantasien dermassen, dass sie am Ende wie lebende Zeitbomben daherkommen, sehr vergleichbar mit jugendlichen Selbstmordattentätern in Palästina. Nein, die Männer haben den Frauen gar nichts gebracht ausser ihrem Machbarkeitswahn und dem Wunsch, möglichst viele Söhne zu zeugen."
Erschlagen zerre ich nun an einem Blumenstrauss und kriege die Köpfe nicht ab. Schliesslich raffe ich mich auf zu einer Entgegnung: "Eigentlich sind Frauen und Männer beinahe gleich. Beide wollen immer mehr Wohlstand, beide sind geldgierig, beide wollen Macht, nur auf unterschiedliche Weise, beide himmeln Potentaten, Präsidenten, Päpste und Prälaten an, ja sogar die schlimmsten Diktatoren und Folterer werden von Frauen und Männern, solange sie auf der "guten" Seite stehen, in den Himmel gehoben. Wo waren die weiblichen Wesen, die Korrektiven zu Falschentwicklungen in der Menschheit, wo versteckte sich ihr Geist des besseren Wissens? Und wer sagt heute Stopp zum grassierenden Wahnsinn der Restverschleuderung allen Habens auf dieser Welt? Die Frauen? Dass ich nicht lache! Wieder einmal wird ein männliches Hirn kommen müssen, um die wahren Relationen des Seins in fundamentalen Gedanken darstellen zu können, indem er das unendlich Chaotische der modernen Existenz herunterbricht auf die wesentlichen Funktionen und diese so beschreibt, dass selbst das einfachste Hirn irgendwie verstehen kann, warum alles nicht so weiter gehen kann wie bisher."


Versöhnlich gibt mir Rita einen Stoss, sodass ich beinahe in den reissenden Bach falle, hält mich erschrocken zurück und sagt: "Beendigen wir unseren Streit. Nie wird ein Mensch wissen, was es bedeutet, an die Grenzen des Denkens zu stossen. Wir können schon froh sein, wenn wenigstens eine privilegierte Minderheit eines Tages deine Texte versteht und diese begrüsst, als neue Art, eine Ahnung von einem vorgetäuschten Sein zu bekommen, um die gelebte Wirklichkeit in einem anderen Licht zu verstehen und diese dann verkraften zu können, wenn alle Systeme in sich kollabieren werden." Und so kehren wir nach diesem "Exkurs über das ewig Weibliche" zurück, zum alltäglichen Geschehen im Bereich des Denkens, meines Denkens.

Am Morgen ist die Welt keineswegs in Ordnung. Im Gegenteil. Nach dem Erwachen lebt die Traumwelt fort und diese ist bei mir von unglaublicher Banalität. Ich bin im Traum ein Biedermann der besonderen Art: Krampfhaft versuche ich, bei den Leuten zu bleiben, diese nicht zu enttäuschen, ihnen gescheite Antworten zu geben, suche vergeblich nach Akten, stundenlang, irre im Kreis in Städten herum und versuche an einen imaginären Ort zu kommen, wo man mich erwartet und wo ich nicht ankommen werde, innerlich zerrissen zwischen der Überheblichkeit einer Person, die ich zu sein scheine und jener, die sich, von Selbstzweifeln geplagt, immer im Kreise dreht auf der Suche nach Banalitäten des Überlebens der einfachsten Art. Eigentlich sind jene Teile der Träume, an die ich mich erinnere, immer ein Abgesang an die Wirklichkeit, während die anderen Teile eigentlich in Ordnung schienen und in welchen ich mich wie ein Fisch im Wasser bewegte, allerdings ohne irgendeine gedankliche Leistung zu erbringen, reines Überleben in einer bestehenden Leistungs- und Geldwelt, also einer Welt, wo sich die meisten Leute im Tagesleben wie selbstverständlich zu Hause fühlen und sie auch nicht hinterfragen.

Doch der Intellekt verlangt seinen Tribut sofort nach dem Erwachen. Ich messe die Welt des Traumes, eine Welt reiner Wünschbarkeiten des Banalen, an der realen Welt, so wie ich sie eigentlich kenne, die Welt mit all ihren Irrtümern, Begehrlichkeiten, Grenzen, vor allem Grenzen des Denkens im allgemeinen Volk, mit jenen Dingen, die ich als unerfüllbar und selbstzerstörend erkenne, dieser ganze Wahn des Seins in einer Scheinwelt, die mit der Realität der Echtwelt rein gar nichts zu tun hat und dann denke ich jeweils: Delavy, jetzt bist du schizophren, jetzt gehst du an den Rand des Wahnsinns. Diese Einfachheit im Traum und diese intellektuelle Komplexität kurz nach dem Erwachen, das kann nicht zusammengehen, daran wirst du zerbrechen, um Himmels willen, werde endlich normal.

Dann verselbständigen sich die Gedanken und dies ist das Momentum, woraus alle nachträglich niedergeschriebenen Texte, auch der vorliegende, entstehen. In der Reinheit eines ausgeträumten Hirns wird endlich all das klar, was im Fortschreiten des Alltags mit all seinen Pflichten und Nöten immer mehr entschwindet, man wird vereinnahmt von der gelebten Realität und wenn es Abend wird und man müde ist, wird alles Erhabene, jenseits der normalen Denkgrenzen Erdachte, entschwinden und an Wichtigkeit verlieren. Jetzt erst werde ich zum Alltagsmenschen der Durchschnittlichkeit und wundere mich über meine eigenen Texte. Doch nie, absolut nie, bin ich im wachen Zustand, selbst wenn ich todmüde bin, in der Lage, meine Texte als Schwachsinn oder als unwahre Spekulation zu verwerfen. Es ist mir in müdem Zustand einfach nicht mehr möglich, den Hintergrund der Texte zu verstehen, das Gedankengebäude, aus welchem all diese Gedankentexte entstammen, noch als Ganzes zu sehen.

Die offensichtliche Unmöglichkeit, ein Denkgebäude des universellen Verstehens in Sprache zu giessen, so, dass es jedes Kind verstehen könnte, ist für mich das Unverständlichste überhaupt. Es bereitet mir keine Mühe, die ungeheure Komplexität des Seins unserer Art im Raum der Unendlichkeit und in der Zeit der Ewigkeit einzuordnen, eben in einer Weise, wie es ein Mensch eben gerade noch kann, und darob die Irrtümer des Denkens dieser Gattung glasklar zu erkennen. Trotzdem bin ich nicht in der Lage, dieses Denken auch nur ansatzweise in Worte zu fassen, in eine Schrift, die allgemein zugänglich wäre. Und so muss ich mich begnügen, irgendeinen kleinen Teilaspekt des Seins ins Auge zu fassen und zu versuchen, im Kleinen das Ganze des Denkgebäudes erklärbar zu machen und während des Schreibens zu wissen, dass dies nie gelingen kann. Philosophen haben sich damit begnügt, das Weltbild krass zu vereinfachen oder im Altertum oder im Mittelalter schon gar nicht über eine komplexe Wirklichkeit des Seins zu verfügen und so konnte es ihnen gelingen, in vereinfachter Art unser Dasein zu begründen, unsere Denkwelten auszuloten und uns zu sagen, wohin die Reise gehen würde. Natürlich waren diese Versuche ohne Ausnahme ein Selbstbetrug an der Realität und damit an der Gattung Mensch, doch sofern das Ego dieser Menschen ins Positive gedreht werden konnte mit diesen philosophischen Denkansätzen, und dies gilt bis zum heutigen Tage für alle lebenden Philosophen, konnte diese "Erklärung der Welt" gelingen.