Friedrich Dürrenmatt ist nicht irgendein Dichter. Er ist der Dichter mit dem vielleicht höchsten geistigen Anspruch an seine Leser, wenn man die "Stoffe" als Massstab nimmt. Nicht die sprachgewaltigen Dichter der Staatsintrige, des Mordes und Totschlags im geschichtlichen Bezug, der Liebeleien der Geschlechter, nicht die Erzähler, die der kriminellen Energie huldigen oder etwa das Bewusstsein fördern, dass ein öder Beamtenstaat in einem Schloss sich klaustrophobisch auswirken kann, sind in bezug auf das Wort "Denkkraft" zu nennen, sondern jene, die eine höhere Sphäre des Seins im Schriftstellertum anstreben. Die viel gelobten Amerikaner sind grosse Narren vor dem Herrn, sie erzählen viel über den Geisteszustand der Menschen, die jenseits des grossen Teichs leben, doch sie verstehen fast gar nichts vom Wesentlichen des Seins. Die Äusserlichkeiten des Lebens sind ihnen wichtig, nicht jene Dinge, die über die Entwicklung im Raum und Zeit dieses Leben erst bewegen. Diese "Dinge" als weitere Ebenen der Schriftstellerkunst mit einzubeziehen, dies erst machte den hohen Stellenwert und die Zeitlosigkeit aller grossen Dichter der Vergangenheit aus.
Wenn sie nicht gerade ein Dürrenmatt schreibt, die Kriminalromane, dann wird nicht mehr daraus als in den "Think"-Spielen mit dem Namen "Memo Crime", wo jeder Kärtchen ziehen darf und sich aufgrund der Stichworte eine Kriminalstory ausdenken muss, die interessanter ist, je mehr Phantasie ein Mitspieler hat. Doch erst, wenn eine höhere Geistesebene mit mehreren Denkböden, eben wie bei Dürrenmatt, aufscheint, kann man allenfalls diese Art der Literatur gelten lassen. Wie gut solche Geschichten sind, bleibt der Geisteskraft der erzählenden Schriftsteller überlassen. Doch ewig bleibt die Frage im Raum, warum sie nichts Gescheiteres schreiben mögen als die ewig gleiche Story, wie Menschen andere Menschen zu Tode bringen. Dabei streifen diese Kleinschriftsteller noch nicht einmal den Verursachungsgrund dieses sonderbaren Gebarens gegenseitiger Abschlachtung. Wie arm im Geiste wir doch geworden sind, vor allem in neuerer Zeit. Man ist mit dem Banalsten, was die Literaturgeschichte hervorgebracht hat, bereits zufrieden, wenn es denn nur genügend unterhaltsam daherkommt.
Ganz anders ist eine Literatur, die mit den "Stoffen" von Dürrenmatt vergleichbar wäre. Hier geht einer an die Grenzen seines eigenen Denkens und man merkt es auch: Noch heute versuchen viele Analytiker, aus diesen Texten schlau zu werden und zu verstehen, welche Hintergründe sich hinter diesen Schriften auftun werden. Ich vermute: Die Versuche werden ohne Resultat bleiben müssen. Dürrenmatt liefert Gedanken am Rande des Denkbaren, keine Lösungen zum Denkbaren hin. Wenn ich schreibe, verlasse ich die Grenzen meiner Denkkraft nie (Kritiker werden hier feixend einwenden, dass man dies an der Beschränktheit dieser Kraft wohl merke). Manchmal mag ich den Pfad der Nachvollziehbarkeit durch andere verlassen, doch dies ist kaum meine Schuld. Es ist gerade die Einfachheit der sprachlichen Darstellung, die schwierig ist, denn es geht darum, ungeheuer schwierige Sachverhalte in einfachen Sätzen zu verbildlichen und zwar so, dass jeder den Gedankengängen folgen kann. Dass ein Dürrenmatt gleichermassen für seine hohe Literatur in den Krimis und den Stoffen gelobt wird, spricht lediglich für die Einfalt vieler Literaturwissenschaftler. Sprache als literarisches Handwerk ist nichts, wenn sie nicht mit Sinn und geistigem Anspruch verbunden ist. Auch Sonntagsmaler sind Maler und sie gehörten - vom Anspruch her gesehen - noch nicht einmal auf die hinterste Seite einer Boulevardzeitung. Bei der Literatur wird dieser Grundsatz andauernd verletzt. Wenn meine eigene "Schreibkunst" nicht zur Kenntnis genommen wird, somit eventuell verkannt, mindestens ignoriert wird, von den jetzigen Lesern wohl als blöd, überflüssig, politisch nicht korrekt usw. taxiert wird, so hat dies wohl kaum mit Denkkraft zu tun, sondern viel mehr mit der geistigen Verfassung jener Personen, die in unserer spasslustigen und unterhaltungsgierigen Gegenwartskultur solche ideenreiche, auf mehreren Ebenen angereicherte Bücher zur Lesung weiter empfehlen sollten. Ein Kultautor wird man in der Postmoderne ohnehin nur noch, wenn man dem gängigen Kultmuster entspricht, das heisst, sich sogar noch dümmer gibt, als man ohnehin schon ist.
Ganz verwerflich ist es wohl in den Augen der politisch und religiös Korrekten, wenn ich immer wieder den Gottesbegriff strapaziere, denn dieser Begriff, der von so vielen Religiösen missbraucht wird, darf nur genannt werden, wenn "Gott" nicht in Frage gestellt wird. Kein Mensch weiss, wer oder was Gott ist, doch alle tun so, als hätten sie ihn persönlich für sich gepachtet. Ich dagegen bringe den Gottesbegriff als technisches Mittel zur Verbildlichung meiner Ideen ins Spiel, und zwar in zweierlei Hinsicht:
1. Ich hinterfrage den allgemeinen Gottesbegriff und die einem Gott von anderen angemasste Denkfähigkeit und Denkfreiheit.
2. Ich spiele selbst künstlich Gott und stelle mir vor, wie ein Gott denken möge, wenn er aus der Ferne des Alls unsere Geschicke so dirigiert, wie wir ihm unterstellen, dass er es unserem Vorstellungsvermögen entsprechend täte.
Diese Methode des Sprechens durch einen Gottesbegriff bedarf einer starken Erklärung: Immer wieder frage ich mich in meinen Texten, wie denkfähig nun ein Gott sein kann und darf. Entweder verkörpert er den reinen Zufall allen Geschehens oder er ist so ungeheuer denkfähig, dass wir nichts von seiner Denkkraft verstehen können. Ein Gott, der alles "vorsieht": Kriege, Folter, Tod, Umweltzerstörung, Massenquälerei von Tieren, unverantwortliches "In-seinem-Namen-Handeln", ein Gott, der dies alles zulässt, ist nach menschlichem Ermessen zumindest dumm, doch die richtige Qualifikation wäre: Er ist ein Sadist, ein Zyniker, ein gedankenloser Egoist, ein Alibi-Hirngespinst der höheren Art für Menschen, die alle denkbaren Gräuel geschehen lassen, er ist somit recht eigentlich ein von Menschen geschaffener Moloch des Bösen. Das wenige Gute im Menschentum schaffen wir dann auch noch selber, dazu ist ein Gott überflüssig. Dass wir diese Maxime auf den Kopf stellen, ist ebenso überflüssig. Diese Umschreibung von Gott infolge von selbstgebastelten Glaubensthesen als "Ketzerei" zu sehen, hat nichts mit philosophischer Denkkraft zu tun. Möglicherweise der wahre Grund, warum alle Philosophen an Gott vorbei philosophierten, eine reine Menschenphilosophie pflegten und die Glaubenssätze den Religionsführern überliessen. Der Vorteil: Sie mussten nicht auf mehreren Ebenen denken und konnten in den Elfenbeingefängnissen eingeschränkten Denkens verbleiben.
Zum Zweiten denke ich zu keinem Moment wirklich, dass es mir gegeben sei, wie ein "Gott" zu denken oder gar ein Gott zu sein. Meine Naivität ist gross, doch nicht derart immens. Mir fehlt grundsätzlich die Phantasie oder nur schon die Vorstellung, was ein Gott sein könnte, der die Forderungen und Erwartungen der Gattung Mensch erfüllen mag. Zudem ist es gerade die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit meiner Texte, die mich unterhalb eines Gottesbegriffes ansiedeln lassen. Meine esoterische, allegorische Schaffenskraft ist dermassen im Eimer, dass ich nicht anders kann, als vernünftig zu schreiben. Und einen vernünftigen Glauben gibt es bekanntlich nicht, sonst wäre es kein Glaube mehr. Würde ich versuchen, wie ein Gott zu denken, würde ich meine Denkkraft dauernd überfordern und Unsinn schreiben. Also, zum Religionsstifter tauge ich einfach nicht. Was ich dagegen liebe, ist die Welt von ganz ferne zu betrachten, liebevoll, geheimnisvoll, aus der Ferne des Alls lässt sich die Realität des Lebens auf der Erde viel besser verstehen und beobachten. Wie ein Gott auf die Welt schauen, allerdings versehen mit menschlichem Verstand, Vernunft, Massstäben der Ethik und der Moral, auf unseren Planeten schauen und sich vorstellen, welche Maximen ein guter, ein wirklich sensibler und geistvoller Gott, der Menschen, Tiere und die Natur als Ganzes über alles liebt, aufstellen würde. Ein solcher Denkansatz für Gott darf man sich als Gedankenmodell gefallen lassen, ohne dass das Wort der "Ketzerei" ein einziges Mal fallen muss. Ich bin nicht Gott, ich weiss nichts von seiner Denkfähigkeit, aber ich weiss, dass die Menschheit sich einen Gott denken muss, der hohe ethische und moralische Zielsetzungen verlangt, wollen wir noch eine kleine Chance des Überlebens als Gattung auf dem Planeten Erde haben für eine gegebene, begrenzte Zukunft. Eine neue Natur- oder Gottes-Philosophie braucht der Mensch als letzte ultimative Forderung an unser Sein.
Hier verbindet sich vielleicht erstmals eine Philosophie mit Gottesglaube in einem Sinne, der weder die Philosophiewissenschaft noch die Ehrbarkeit der Religionen in den Dreck zieht, sondern eine gleich hohe geistige Anforderung an beide Richtungen des Glaubens, jene an die Vernunft und jene an einen Gott, stellt. Die Idee, dass Vernunft jenseits von Gott, oder Gottesglaube jenseits aller Vernunft angesiedelt wäre - wie es angesichts des realen Geschehens auf unserem Globus zu vermuten erlaubt sei - könnte in der Zukunft, auf der Basis eines neuen philosophischen Denkansatzes, eine Korrektur zu einer besseren Weltkultur der Geisteswissenschaften einläuten.
