Eine Welt voll nützlicher Versager

Kürzlich meinte ein Rechtsanwalt während eines Geschäftsessens, dass er nun bald pensioniert würde und erst jetzt erkenne, dass er eigentlich versagt hätte im Leben. All die Jahre über sahen alle in diesem grossen eindrucksvollen Machtmenschen mit gutgehender Rechtsanwaltsgemeinschaft an bester Lage in Zürich eine wichtige Person des wirtschaftlichen Geschehens. Er war doch immer d e r  mächtige Wirtschaftsanwalt mit zahlreichen Verwaltungsratsmandaten, ein Mensch mit viel Einfluss auf andere Menschen, Menschen mit  viel Kapital und zahlreichen Verantwortlichkeiten wieder für andere Menschen, wie Angestellte der eigenen Firmen, gegenüber den Kunden, den Gläubigern, den Aktionären, der Öffentlichkeit, den Behörden, anderen Firmen gegenüber. Viele Menschen erhielten Arbeit und Brot durch Firmen, denen unser enttäuschter Anwalt über Jahre und Jahrzehnte vorstand und diese juristisch in allen Dingen beraten hat.

Doch nun sagt dieser Mann, er hätte im Leben eigentlich gar nichts erreicht. Am Ende erst sehe er die ganze Wahrheit. Die hohen Lebenskosten mit Villa am See zwangen in förmlich, einen hohen Verdienst jährlich nach Hause zu tragen: Hohe Alimente an die erste Ehefrau, Investitionen in Haus und Garten, unglücklich verlaufene Geldanlagen, Verluste bei raffinierten Betrügern, Kostenabdeckung und Schuldübernahmen als Verwaltungsrat bei Konkursen, Autos, Versicherungen, Geschäftskosten, Personal, Altersvorsorge, Steuern und vieles mehr habe er dauernd finanzieren müssen - und was bleibt? Dass er nun noch bis ins hohe Alter arbeiten und viel Geld verdienen müsse, um finanziell nicht einzubrechen, und dass er vielleicht sogar noch das Haus verkaufen müsste, um den Lebensabend zu finanzieren - und damit alle Erinnerungen an Eltern, Kinder, Besuche, die schönen und verklärenden Situationen des Seins und Scheins an diesem wunderbaren See mit den fernen Schneebergen hinter sich liesse, alles, was ein Leben erst lebenswert macht.

Und welche Arbeit verrichtete er, bei Lichte betrachtet? Immer das Gleiche: Dieselben Sitzungen, dieselben Protokolle, die ewig gleichen Verträge, Verwaltung von Geldern, Korrespondenzen über den Geschäftsgang der verwalteten Firmen, Personalprobleme, hie und da ein interessanter Streitfall vor Gericht, Aktenstudium, Rechtsliteratur büffeln - alles Staub und Wahn der eigenen Wichtigkeit, Schein und Vortäuschung falscher oder unwichtiger richtiger Tatsachen. Eben ein Leben eines einflussreichen Rechtsanwaltes in der "Weltfinanzmetropole" Zürich, eine Karriere, die schliesslich nur noch im Kreise drehte, sodass jeder denkende Mensch in der Rückschau auf das eigene Leben vor sich selbst erschrecken müsste. Ich schlucke mehrmals schwer, denn zu sehr erinnern mich diese Geständnisse an mein eigenes Leben: die ewig gleichen Revisionen, Steuererklärungen, Analysen über die wirtschaftliche Situation von Gesellschaften, die ewig gleichen Berichte, Korrespondenzen und auch hier: alles, damit man den hohen Lebensstandard finanzieren kann, den man sich selbst eingebrockt hat mit Häuserkauf, Garten, Autos, Geschäftskosten, Ehefrauen, Kindern, Ansprüchen der unnötigen Art, erzwungenen Versicherungs- und Altersvorsorgen, einkommensabhängigen Steuern und vielem mehr, was den Geldzufluss wie ein Nichts automatisch gleich wieder abfliessen lässt - ein Leben lang.

Deshalb habe ich allen Grund, meinen Freund, den Anwalt, zu trösten und die ganze Sache nicht unwesentlich zu relativieren. Wie wäre es denn gewesen, wenn wir echten Erfolg im Leben angestrebt hätten? Erfolgsverwöhnte Herren mit Machtgebaren, an der Spitze von Grosskonzernen, verantwortlich für Abertausende von Angestellten und Arbeitern, grosse Auftritte in den Medien, Erstreben von hohen Shareholder values der verwalteten Gesellschaften zu Lasten langfristig ethischerer Zielsetzungen, Entlassung von Personal zu Gunsten von Mehrprofit, Erreichen von gewaltig hohen Eigengehältern und Optionen auf Aktien der eigenen Gesellschaften durch Manipulationen in Bilanzen und Berichten, Essen in renommierten Kreisen in Luxushotels, Suchen von Steuerschlupflöchern, Auslagerung ganzer gewinnträchtiger Zweige der Betriebe in Länder mit tiefer oder gar ohne Steuerbelastung - somit Betrug an jenen Menschen, die die zusätzliche Steuerlast mit weniger Verdienst nun zu übernehmen haben - Umweltzerstörung mit Fabriken und Verkehrswegen, unwiederbringlicher Ressourcenverschleiss beim Erzeugen von Profit zu Gunsten der Kapitalgeber, Vortäuschung falscher Nützlichkeiten, Betrug an der Öffentlichkeit durch geschickt vorgetragene Statements, die die Wahrheit über die geführten Betriebe verschönern oder gar verfälschen, Kampf gegen Konkurrenz, Kampf gegen das eigene Personal, Kampf gegen andere Machtmenschen, die auch an die Spitze wollen ...

Das alles wäre nun also der "Erfolg", den er eigentlich angestrebt, und der ihn, den Rechtsanwalt, befriedigt hätte? Er muss es zugeben: So hätte er sich den Erfolg eigentlich gewünscht, ohne sich klar zu werden, was er damit menschlich, sozial und ethisch gesehen in der Rückschau des Lebens wirklich getan und erreicht hätte. Vielleicht keine Geldsorgen mehr, dafür eine verdeckte Scham seiner selbst, die ihn in manchen Momenten des wahren Erkennens innerlich zerreissen müsste. Nur gut, dass die meisten alten Machtmenschen diese ethische Sicht des Lebens irgendeinmal völlig verloren haben und sich bis zum Tode erfreuen können an ihrem "Lebenserfolg", der in Wahrheit eine Lebenslüge war.

Worin bestehen denn eigentlich die Kunst und der Anspruch, eine erfreulichere Rückschau auf ein lebenswertes, eben echt erfolgreiches Leben halten zu können? Ist es nicht so, dass die einzig Erfolgreichen jene Menschen sind, die  - in diesen Zeiten des Wahnsinns, des Strebens nach Geld und Macht -  die Hände in den Schoss legen oder sich altruistisch und fast ohne Geld zu verdienen in den Dienst von Armen, Kranken und Benachteiligten stellen? Die nicht in der Bedeutung der eigenen Person das Ziel ihres Lebens erkennen, sondern im Bestreben, möglichst vielen Menschen wirklich nützlich sein zu können, nicht Kuckucksheime von aufgehäuften Kapitalien auf Bankkonten und in Wertschriftendepots in die Welt zu setzen, sondern anderen Menschen, Tieren und der Natur zu ermöglichen, das zu tun, was ein erfolgreiches Leben ausmacht, nämlich den eigenen Egoismus hinten anzustellen zu Gunsten einer Echtwelt, die uns bei hellem Licht besehen ein Paradies in der wirklichen Natur mit ihrer Pracht hätte bescheren können, umgeben von zufriedenen und genügsamen Menschen, und zwar auch solchen Menschen, die am meisten unter Benachteiligung leiden müssen.

Was ist dagegen ein erfolgreicher Rechtsanwalt, Politiker, Wirtschaftsgigant, Wissenschaftler? Sind sie alle etwa nur Menschen, die Opfer des eigenen zerstörerischen Ehrgeizes der Machbarkeit wurden? Eigentlich könnte nur der Verzicht auf Macht und Geld bewirken, dass wir nicht in einer Welt voll von Versagern zu leben hätten. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, ein Weg, der immer steiniger und unzugänglicher zu werden droht, wenn wir nicht lernen zu sehen, wer und wo die eigentlichen Versager in dieser besten aller Welten sind.