Kants Hoffnung

Zuerst will und muss ich erwähnen, dass ich diese Rede für eine der interessantesten und gescheitesten des Jahrhunderts halte. Was Dürrenmatt in diese wenigen Seiten seiner Rede hinein packt an grundlegenden Erkenntnissen und Wahrheiten, ist verblüffend und verlangt höchsten Respekt. Doch eben hier liegt die Herausforderung, an einer ausserordentlich geistvollen Arbeit das Denkvermögen zu schärfen und vielleicht den Versuch zu wagen, über die vorgegebenen Gedanken hinweg den Gedankenflug weiter segeln zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss zuerst die etwas wirre Rede von Dürrenmatt in ihre Einzelthesen zerlegt und gekürzt werden, damit ersichtlich wird, wie er von einer Theorie zur nächsten gelangen konnte, indem er den Menschen, den Kommunismus, die Religiosität und das gesamte Weltall samt Urknalltheorie in seine Überlegungen einbezieht. Ein fürwahr herkuleskes Unterfangen, an dem er keineswegs gescheitert ist, sondern nur einmal mehr im Erklären des Bestehenden auf höchstem Niveau hängen bleibt. Und damit wird eben die Möglichkeit von besseren Entwicklungen übergangen, weil hierzu der Mut und die Blödheit des hier Schreibenden nötig gewesen wären - eben die Frage zu stellen: Warum haben diese unsere Philosophen und deren Interpreten immer nur in den gleichen geistigen Furchen gegraben und sind nicht darauf gekommen, dass diese Denkrichtungen in den Untergang der Menschheit führen könnten?

Hier nun also - auch zum Zweck des eigenen besseren Verstehens seiner verschachtelten Theorien - eine zusammenfassende Interpretation der Rede Dürrenmatts vom 25. November 1990:

1. These:  Die Entwicklung der Atombombe und der Raketen durch Nazideutschland führte im Endeffekt infolge der Übernahme dieser Kenntnisse durch die Grossmächte zum Gleichgewicht des Schreckens zwischen einem kapitalistischen und einem kommunistischen Regime. Daraus folgte eine Kettenreaktion der Furcht, welche in ihrer Bedeutung mehr psychologisch als ideologisch zu erklären ist, denn die mögliche gegenseitige Gesamtzerstörung führte zu einer weltweiten Psychose, die einen neuen Blick auf die Existenz des Menschen begründete.

2. These: Aufgrund der ersten These war es nicht mehr möglich, dass eine Ideologie auf kriegerischem Wege über die andere triumphieren würde. Somit musste in friedlichem Wettstreit die Weltbevölkerung wählen, welches System ökonomisch, politisch und ideologisch bessere Resultate bringt und somit insgesamt das bessere und weitblickendere sein würde. Allerdings machte der Umstand, dass ein System das andere zu Tode rüsten konnte, die Reformation, also die Perestroika, als Erneuerung des kommunistischen Systems notwendig.

3. These: Während die Tiere mit dem Instinkt leben, ist dem Menschen der Verstand gegeben, er ist also ein denkendes Tier. Dies erlaubte ihm die Erkenntnis, dass das Leben durch den Tod beendet werden kann. Sie erlaubte ihm auch, am Ende einer Entwicklung, die bis ins 18. Jahrhundert gemächlich verlief, durch die beschleunigte technologische Entwicklung in zwei Jahrhunderten ein Prothesenwesen zu werden, das sich schliesslich in geballten Völkerkriegen mit eigenen Waffen auslöschen könnte.

4. These: Die Theorien von Marx basierten auf einem mechanistischen Weltbild. Mit Kämpfen des Proletariats gegen die besitzende Klasse sollte schliesslich eine klassenlose Gesellschaft entstehen und damit Gerechtigkeit und Freiheit für alle schaffen. Nicht vorausgesehen hatte Marx die naturwissenschaftliche Entwicklung, die dieses einfache Weltbild zerstörte und damit auch seine Theorien als nicht realisierbar zurückliess.

5. These: Adam Smith vereinfachte das wirtschaftliche Geschehen in der Theorie, indem er den Kapitalismus mit dem menschlichen Egoismus zu erklären versuchte, also der Wunsch des Einzelnen, für sich allein auf Kosten aller anderen immer mehr Freiheit zu gewinnen, die allerdings durch den Wunsch nach Freiheit der anderen begrenzt würde. Damit kam der Widerspruch der Maximen von der Freiheit und der Gerechtigkeit in einem Gesellschaftssystem zum Tragen, der von Vaihinger in seiner "Philosophie des Als Ob" untersucht und blossgestellt wurde. Das Verhältnis von Herr und Knecht ist immer ein relatives: Das Gefühl von Freiheit und Gerechtigkeit interpretiert jeder Mensch auf seine Weise und wo alle mit einem relativ guten Gefühl als freie und gerecht behandelte Menschen existieren, da kann ein Gesellschaftssystem gut funktionieren.

6. These: In der Abstraktion funktionierte diese Idee, sich relativ frei und gerecht behandelt zu fühlen, jedoch nur zu Beginn des real existierenden Sozialismus im kommunistischen Gesellschaftssystem, doch dann übernahm die Partei die Rolle des Herrn und Kapitalisten. Eine Pyramide von begünstigten und diesen zudienenden Menschen entwickelte sich und wurde immer behäbiger; jedes Parteimitglied hatte somit in dieser Pyramide die Rolle eines Herrn und eines Knechtes inne, die sich nach dem Prinzip der Gerontokratie oben ins Nichts auflöste. Damit war der Klassenkampf zu einem Wolkenkuckucksheim geworden und desavouierte sich selbst. In diesem System wurde der "freie" Sozialist zu seinem eigenen Knecht, dessen Freiraum immer mehr durch die Unbarmherzigkeit des Parteisystems eingeschränkt wurde.

7. These: Die Reaktion der Bürger war eine Art passiver Widerstand gegen das politische und ökonomische System. Eine gewaltige Stagnation machte sich breit, die Gorbatschow nur mit einer neuen klassenkämpferischen Revolution glaubte reformieren zu können, um dem das kommunistische System bedrängenden Kapitalismus wirkungsvoll Widerstand zu leisten. Doch die durch die Aufklärung, die Perestroika, ausgelöste Lawine machte sich selbständig und begrub das gesamte System unter sich. Die Einführung einer freien Marktwirtschaft liess die Pyramide der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei einstürzen und gleichzeitig die Logik der marxistisch-leninistischen Ideologie ins Leere laufen.

8. These: In einem sehr interessanten philosophischen Exkurs erklärt Dürrenmatt das Wesen des Menschen, indem er Theorien Kants einbezieht. Die Furcht vor dem Tod sei überwunden worden durch den technischen Verstand, der sich mit der metaphysischen Einbildungskraft verband und damit zusätzlich zur Magie, Religion und Kunst die technologischen Werke zu deren Darstellung schuf, Kathedralen, Pyramiden, Tempel. Die zur alleinseligmachenden Wahrheit gefrorene Verstandeskomponente nahm schliesslich überhand über den reinen Gottesglauben in beinahe allen Religionen und damit wurden Dogmen geschaffen, die im Fundamentalismus erstarrten. Einer dieser technologisierten Fundamentalismen sei der Marxismus als wissenschaftliches Modell. Die praktische Vernunft zeige auf, was wir vernünftigerweise glauben sollen. Die Freiheit als metaphysischer Begriff ist das Gefühl, nicht unfrei zu sein, und wird begrenzt durch die Freiheit anderer und damit wird der metaphysische Begriff der Gerechtigkeit zu Kants Forderung: Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann; handle im Sinne des kategorischen Imperativs. Diese Vernunftsreligion ersetzt das Glaubensprinzip an eine höhere Macht durch das Nützlichkeitsprinzip. Gewonnen wird nichts, denn nun muss sich der Mensch als grundsätzlich böses Wesen am eigenen Schopfe ins Sittliche ziehen. Und eben dies wollte Marx mit dem Schaffen eines gerechteren Gesellschaftsmodells erreichen und verkannte dabei die Eigendynamik der in die Wirtschaft und Politik einfliessenden naturwissenschaftlichen Dogmen.

These 9: Der Untergang des Kommunismus führte zum vermeintlichen Sieg und Triumph des Kapitalismus. Dieser allerdings wird nur die Fehler des ersten perpetuieren und zum Untergang der Menschheit führen, aufgrund seines Machtstrebens und fehlender Solidarität und Gerechtigkeit. Somit könnten nur über Kants Hoffnung bessere Verhältnisse erreicht werden: Über eine furchtlose Vernunft sind jene Elemente zu eliminieren, die uns zerstören. Als Resultat wird unsere Scheinordnung in ein funktionierendes menschliches Dasein überführt. Der Mensch hat sich am eigenen Schopfe aus dem Untergang gezogen; sozusagen als letzte philosophische Hoffnung.

Soweit meine sehr persönlich gefärbte Interpretation von Dürrenmatts Gedanken zur heutigen Welt am Ende aller philosophischen Wahrheiten. Ich habe den Text mit viel Gewinn und doch mit zunehmend schlechtem Gewissen gelesen: Zwar hat hier seit langem einer weiter gedacht als fast alle anderen vor ihm (ganz im Gegensatz zu den heutigen neuen Philosophen!), ist aber trotzdem nicht weiter gekommen. Woran liegt dieses Gefühl, mit meinen eigenen Gedanken nicht genügen zu können und trotzdem nichts dazuzulernen, wo doch die geistige Substanz und Analyse von grosser Einfachheit und Klarheit ist und gerade deshalb mehr einschliesst, als in der heutigen Zeit selbst bei den besten Schriftstellern zu bekommen ist?

Der Grund meines Unwohlseins ist der ewig Gleiche: Ich kann nicht verstehen, weshalb die ganzen Philosophien der Welt stets auf den bestehenden Verhältnissen beruhen und nie zur einzig wichtigen, jedoch abstrakten Fragestellung führen: Wie hätten Philosophien sein müssen, damit sich die Menschheit ganz anders, nämlich in Richtung einer wirklichen Vernunft der Selbstbeschränkung, der Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und des Planeten Erde und hin zur Verbesserung aller Beziehungen zu Natur, Tieren und anderen Menschen entwickelt hätte? Es muss doch möglich sein zu erkennen, dass alle Philosophien - auch die jetzt von Dürrenmatt entwickelte - im Endeffekt ins Verderben geführt haben. Jahrmillionen einer Artenentwicklung, die nur zur gegenseitigen Vernichtung, zur Vernichtung des Erdballs und zum Missbrauch von Luft, Wasser, Erde, Tieren und Pflanzen geführt haben. Das kann doch nicht die Grundlage neuen Denkens sein, das kann doch nicht das letzte Wort - auch wenn es von Kant kommt - sein. Am Resultat erkennt man: Diese Philosophen haben alle zu wenig nachgedacht, sie haben die geistigen Grundlagen der alten Griechen missbraucht und in einem menschlichen Machtrausch und in falsch verstandener verwissenschaftlichter Vernunftshörigkeit eine Welt geschaffen, die nur noch einen Ausweg lässt: sich bei guter Hoffnung am eigenen Schopfe aus dem selbsterzeugten Dreck zu ziehen. Etwas, was schon Münchhausen nur im Märchen schaffen konnte.

Wir träumen alle. Selbst unser tägliches Dasein ist zum Traum, eigentlich schon zum Albtraum geworden. Damit wir diesen Traum verlassen können, müssten wir zuerst erwachen und neue philosophische Grundlagen schaffen. Dies ist mein Bemühen: zu diesem Kraftakt aufzurufen - eine Mutprobe sondergleichen, die jener von Gorbatschow in keiner Weise gleicht, als er den technologischen Entscheid fasste, den tödlichen Pfad des gegenseitigen Zu-Tode-Rüstens aus wirtschaftlichen Gründen und zur Erhaltung des sozialistischen Gesellschaftssystems zu verlassen. Er tat dies aus pragmatischen Gründen. Doch das Wort Pragmatismus ist für mich das schlimmste Schimpfwort aller Zeiten, denn es rechtfertigt alle Theorien, die das bestehende Böse für ewig zementieren wollen. Dürrenmatt und Gorbatschow als furchtlose Denker einer modernen Endzeit? Ja, sicher, Analysten ihrer Zeit, aber nicht der Endzeit der Gattung Mensch.

Die Kraftakte zur Veränderung der Vernunft hin zu neuen Wegen sind von ganz anderer Natur: sie verlangen die Weisheit des Erkennens über alle Grundlagen des Verderbens hinweg, über Egoismus, technologische Fehlvernunft, falsche Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit, Religion als Denkersatz, Fundamentalismus zur Selbstbeweihräucherung, Erde und Tiere als Dinge und Gott als willenloses Konstrukt, das uns ungerührt zuschaut, wie wir schaufeln und schaufeln und dann ins eigene Grab plumpsen. Überheblichkeit der modernen Denker und Dichter, die glauben, etwas Wesentliches zu sehen und dabei nur die schon bestehenden Denkgrundlagen vertiefen. Schweigende Mehrheiten, die schon lange aufgehört haben zu denken, die nur noch der kapitalistischen Selbsterfüllung hinterher rennen und dabei schon alles verloren haben. Vernichtung der geistigen und realen Lebensgrundlagen auf einem Planeten, den nicht wir erobert haben, sondern dessen Evolution unsere Art erschaffen hat und sie somit auch wieder wegschaffen kann und wird.