Soeben ist eine Studie erschienen über die Physiognomie von Hitler und dem Bemühen seiner Zeitgenossen, über sein Gesicht das Rätsel zu lösen, wie ein derartig ausgestalteter Mensch es überhaupt dahin bringen konnte, Machthaber über eine Kulturnation zu werden. Was mir am meisten auffällt, ist die ungeheure Vielfältigkeit, wie ein und dasselbe Gesicht je nach Betrachter die verschiedensten Assoziationen auslösen kann: Jesus Christus, ein Monster, ein Biedermann, eine Totenmaske der schönen Art, ein Schizophrener, ein Jude, ein Anti-Arier, ein Gutmensch, ein unbeherrschter, dummer Machtmensch, ein verklärter Schöngeist, der alle Menschen um sich herum verzaubern kann, ein Charmeur, ein Arsch mit Ohren usw. Der letzte Ausdruck stammt von mir, denn ich habe Hitler nie und zu keinem Zeitpunkt anders wahrgenommen als einen "Arsch mit Ohren", wobei ich diesen Ausdruck nicht etwa im übertragenen Sinn verstehe wie ein blöder Mensch, den man aufgrund seiner Taten und der Historie hassen muss. Nein, ganz wörtlich zu verstehen: Immer wenn ich dieses Gesicht sah, auf Photos oder während seiner Tiraden oder wenn er an einem Kind im Arm rumschmuste, kam diese Assoziation: das ist physisch ein Arsch, mit dem Mund als Arschloch, behaart, mit wilden und unkontrollierten Augen, die die bösen Gedanken förmlich in die Kameras schleuderten und eben, aussen vor die Ohren. Nichts lässt die behauptete Edelkeit erahnen, alles ist eine Anklage für das wachsame Auge und alarmiert alle noch klaren Sinne. Wenn nun dieser Mensch am Randstein hocken und betteln würde, nähme man das wahre Ausmass seiner inneren Erbärmlichkeit voll wahr. Nur durch Machtgewinn konnte er aller Welt vortäuschen, dass man nicht einem Albtraum gegenüber sass, also einem heruntergekommenen Maler, der durch politischen Zufall unermessliche Macht erhalten konnte und deshalb von aller Welt respektiert und überhöht anders wahrgenommen wurde, als er wirklich war.
Ich staune von morgens bis abends über die unglaubliche Blindheit meiner Mitmenschen im Erkennen des Realen: Sie lesen Zeitungen und verstehen nicht, was sie lesen, die hören Radio und verstehen nicht, was sie hören, sie schauen sich Machtmenschen an und sehen nicht das wahre Gesicht dahinter, den wahren Charakter. Diese Blindheit dem Realen gegenüber, ob bei der Geburt den meisten Menschen schon mitgegeben, ob anerzogen, ob mit der Zeit - über das Erleben des Realen - der Durchblick hinter geistige Fassaden den meisten Menschen einfach nicht mehr zugänglich wird oder nie zugänglich gewesen sein konnte, dies alles und noch viel mehr verstehe ich nicht, bei all dem, was ich täglich erlebe und denke.
Wir werden noch viele Hitlers, Francos, Milosevics, Reagans und Pinochets (neue Gesichter dieser Art sehe ich bei George W. Bush und Putin) haben, wenn wir nicht endlich lernen, Vorgänge und Gesichter zu "lesen", hinter den Masken von Personen und ihren Taten, Worten und Bildern die wahren Absichten und die wahren kommenden Verhältnisse hervor zu zaubern. Ich weiss nicht, wer diesen Kraftakt je schaffen wird, zu Gunsten aller, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, zu denken, zu erkennen, die Welt zu verstehen. Ich weiss nur: Diese geistigen Mittel brach liegen zu lassen, die Schule der Wahrnehmung zu vernachlässigen, könnte der Hauptgrund für unseren baldigen Niedergang werden.
Ein Gesicht verbirgt viele Schichten: Zuoberst ist der glatte Schein, das, was ein physiognomisch nicht geschulter Mensch fast allein wahrnimmt, die Lieblichkeit oder Hässlichkeit von Gesichtszügen, die wir uns in unserer Kultur als schön oder hässlich zu empfinden angewöhnt haben. Als zweite Schicht erscheint die eventuelle Schönheit und Geistigkeit hinter einer zum Beispiel als hässlich empfundenen Oberfläche. Diese sehe ich sofort, doch die meisten Menschen sind nicht imstande, nur schon diese zweite Ebene zu sehen. Doch noch immer erkennt man nicht den wahren Menschen, den wahren Hitler. Jenseits der natürlichen Ausgestaltung eines Gesichts widerspiegelt dieses in einer dritten Schicht das gelebte Leben, die Geisteshaltung, die echte Intelligenz und Denkfähigkeit. Doch um diese Schicht, diese Person zu "sehen", braucht es intuitive, beinahe seherische Kräfte. Ich verfüge über diese und wundere mich masslos, dass andere Menschen hierzu einfach nicht fähig sind. Und so streite ich mich mit anderen Menschen über das "Sein" von anderen Menschen, hauptsächlich von Berühmtheiten, und dabei fehlt mir der Sprachschatz, um verständlich zu machen, was ich meine. Und in diesem Sinne ist das Gesicht von Hitler und anderen Potentaten nur für wenige zu lesen, und zwar lange, bevor diese Menschen grauenhafte Taten vollbringen. Attentäter gegen solche Scheusale sind dann meist Leute, die die intuitive Gabe des Erkennens von Physiognomien ebenfalls beherrschen, während die Liebhaber der Diktatoren (siehe Pinochet) die Hände in dem Himmel recken und nach Vergeltung schreien, weil sie nicht "sehen" können. Dass dieselben Menschentypen meist auch nicht "denken" können, ist ja bekanntlich der Hauptgrund meines Schreibens.
Wie bei der Musik verweigert uns die instante Wahrnehmungsfähigkeit zuerst, ein Genie physiognomisch von einem Scharlatan zu unterscheiden. Fast alle genialen Musiker, aber auch hohen Denker wurden in ihrer Zeit verkannt und schliesslich viel später anerkannt, während in derselben Zeit wahre Idioten dieser Künste als Kult verehrt wurden und werden. Der Zeitgeist ist ein sehr oberflächlicher Geist und nur etwas für das Massenvolk, dasselbe Massenvolk, das später nicht verstehen will, warum die echten "Grössen" nie erkannt wurden und werden. Sie selbst sind der Grund; ihre Oberflächlichkeit der Wahrnehmung. Die Kunde der Physiognomie macht nur Sinn, wenn die Beurteiler fähig sind, diese richtig anzuwenden und zu interpretieren. In falschen Händen, sprich Hirnen (siehe Nazideutschland), wird sie zur Waffe gegen andere, meist gegen geistig Höherstehende, als es die ideologisch verblendeten "Experten" sind.
