Kürzlich sagte mir ein deutscher Geschäftspartner folgenden Satz: "Die jungen Leute sind alle selber schuld, wenn sie keinen Job finden. Sie hätten sich um eine bessere Ausbildung bemühen sollen, dann hätten sie wieder eine Chance...!" Wer diesen Satz nun liest und nicht merkt, wohin die Beweisführung gehen wird, ist vom selben Blödheitsvirus des spätkapitalistischen Leistungsdenkens durchdrungen wie mein sonst sehr geschätzter Berufskollege.
Sie ist einfach unausrottbar, die dumme Idee, dass ALLE Menschen zu Genies taugen und dann alle auf höchstem Niveau arbeiten könnten, dass sie alle auf gleicher Basis mit Geist und Energie versehen sind, dass sie alle die gleiche Startbasis hätten. Dies ist der reale Grundlagenirrtum des Denkens in einem für die Zukunft untauglichen Gesellschaftssystem, dieser Optimismus des "Wir werden es schon schaffen, wenn nur alle genug gescheit sind" ist in Wahrheit ein Klugscheisser-Denken der Privilegierten auf dieser Welt. Zur Klärung dieser beleidigenden Einführung stellen wir nur einige einfache Fragen:
- Wer soll die niedrigen Arbeiten machen, wenn alle Menschen zu Intellektuellen mutiert sein werden (eben, damit sie einen guten Job bekommen)?
- Was machen wir mit Menschen, die von Natur aus nicht über die Grundlagen für eine hohe Ausbildung verfügen können?
- Wo schaffen wir alle diese Jobs her in einer immer dümmer werdenden Welt, wo eine hohe Intelligenz immer weniger vonnöten, ja sogar hinderlich ist?
- Braucht es Intelligenz, braucht es Denkkraft, um ein Computerprogramm zu generieren oder braucht es eher technologischen Fleiss, durchtränkt mit universeller Phantasielosigkeit sondergleichen?
- Braucht es hohe Intelligenz, um stundenlang einem Arbeitsroboter zu sagen, wie er ein Werkstück, z.B. eine Turbine, zu schleifen hat?
- Braucht es hohe Intelligenz um einen Standardbrief im PC-System abzuholen und an tausend Leute zu E-mailen?
- Braucht es Intelligenz, um lebende Menschen zu umsorgen und in den Tod zu begleiten?
Verdammt, wie konnte mir nur die letzte Frage in diese Aufstellung geraten? Hier ist doch ein Denkfehler, nicht wahr? Ja, hier ist ein Denkfehler, ein Denkfehler, den heute die ganze Gesellschaft, die nur Geldmehrwerten nachrennt, macht. Diese Generation hat als Gesamtheit verlernt, wesentliche Lebensdinge von unwesentlichen Sachdingen zu unterscheiden. Das ist nicht schlimm. Schlimm ist, dass keiner es merkt, selbst wenn er es liest und endlich als Resultat begreifen sollte, dass es höchste Zeit ist für einen geistigen Marschhalt.
Profitieren die Intelligenten und die vermeintlichen "Genies" nicht dauernd von den wenig entlöhnten Arbeiten der sogenannt "Dummen"? Diese nämlich pflegen diese Privilegierten des Lebens im Spital, transportieren sie von einem Ort an den nächsten, entsorgen ihren Dreck und ihren Abfall, erstellen alltägliche Dinge und reparieren diese, wenn sie kaputt sind. Sie leisten Pflege- und Hilfsdienste in Spitälern (sofern für diese Arbeiten nicht auch noch universitätsgebildete Personen angeheuert werden, die wegen der Ärzteschwemme nicht als Chefärzte Verwendung finden ...), leisten Drecksarbeiten in Kraftwerken, Industrie- und Dienstleistungsbetrieben. Diese "Dummen" machen eigentlich jene Arbeiten, die das ganze Überlebenssystem unserer Gesellschaft in Betrieb halten, sie alle sind es, die für eine hohe Lebensqualität der Privilegierten sorgen. Und der Lohn? Temporär-Jobs zu lausigen Anstellungsbedingungen, die die Erfolgreichen und Reichen den Dummen und nicht Erfolgreichen überlassen wollen und sich dabei noch als Gönner vorkommen. Die vernachlässigten Menschen (vor allem auch die Frauen dieser Welt!) leisten das Wesentliche für unser Wohlsein, unsere Gesundheit und unsere Bildung und sie übernehmen jene Routinearbeiten, die kein "Genie" zu leisten bereit wäre.
Fassen wir also zusammen: Die ausgebildeten "Gescheiten" hängen am Tropf der für sie Drecksarbeiten leistenden Lebenshelfer und bedanken sich mit erbärmlichen Lebensvoraussetzungen, Missachtung der Person, schlechter Nachrede und tiefem Sozialansehen, Verunsicherung durch jederzeit mögliche Entlassungen und Arbeitslosigkeit und andere psychische Belastungen aller Art. Somit gehören die weniger Gebildeten oder die Nicht-Bildbaren endlich geschützt vor den Anmassungen der Intelligenten, Bildbaren. Es ist ein Naturgesetz, dass nicht alle Menschen gleich gescheit sein können und dass nicht alle auf höchstem Geistesniveau leben, arbeiten und ausgebildet werden können.
Der Kapitalismus schafft seine eigenen Henker und Opfer. Letztere werden sich schliesslich wiederum über das Ventil der Kriminalität an den Henkern zu rächen versuchen, wenn der Dauerdruck und der Neid auf nicht erreichbare Positionen und Lebensbedingungen unerträglich werden. Welche Wahl haben die Schwachen der Gesellschaft angesichts der heute noch Energiegeladenen? Untergehen in Depression oder Wiederaufstehen in Aggression? Und wer bezahlt die gesellschaftlichen Kosten? Wir haben die Wahl eines Verhaltens, das den Minderbegabten eine Chance lässt, etwas vom Kuchen der von den Göttern Gesegneten zu erhaschen.
Eine Ethik des Lebenlassens soll diese verdammte Rechthaberei der Stärkeren im Geldgier-Getriebe eines missratenen Kapitalismus ablösen, bevor die menschliche Spezies Amok läuft in kollektivem Wahn und alles - die Intelligenten, die Dummen, die Reichen, die Armen, die Schönen und die Hässlichen - in den Abgrund einer nun endlich erkennbaren Erbärmlichkeit, heraus aus einem nicht mehr künstlich aufrecht zu erhaltenden Engpass, reisst.