Heute eine Radiosendung gehört über die Erinnerungen einer sehr verdienten Mitbegründerin der Amnesty International. Ihr Engagement für die Menschenrechte in der heutigen Welt verdient höchsten Respekt. Doch vor allem war es interessant zu erfahren, wie meine vom gehörten Interview beeinflusste Optik in der Betrachtung, was denn nun Menschenrechtsverletzungen seien, immer wieder korrigiert werden musste. Allmählich schlichen sich ganz verdächtige Gedanken in mein Hirn. Irgendetwas konnte mit der ganzen Art, die Menschen verbessern zu wollen, am Ende der Zivilisation, nicht stimmen. Was war es nur, das mir immer mehr sauer aufstiess beim Zuhören? War es der Umstand, dass folgende Tatbestände zu wenig hinterfragt werden?
1. Sehr häufig werden aus Opfern, die man aus den Fängen von Folterern und Totschlägern befreit hatte, später einmal politische oder wirtschaftliche Täter, die ihren Opfern dann noch viel grösseren Schaden zufügen, als der "Gerettete" seinerzeit, bei der rettenden Intervention von Amnesty International, selbst zu gewärtigen hatte.
2. War es die Breite der Menschenrechtsverletzungen? Kleine Verstösse gegen Asylrechte werden in den gleichen Topf geworfen wie etwa massenhaftes Foltern in Regimes, das, von den USA unterstützt, in rechtsgerichteten Diktaturen geschah und, von Kommunisten gefördert, in linksgerichteten Diktaturen.
3. Ist jede Menschenrechtsverletzung wirklich eine Verletzung von Rechten? Wenn ein Krieger, gleich ob von der Regierung, der Opposition oder den Guerillakämpfern herkommend, Zivilisten tötet, foltert, vertreibt usw., so hat dieser Krieger in den meisten Fällen keinen Rechtsschutz, sondern nur noch den Tod verdient. Nicht den Foltertod, sondern einfach eine Hinrichtung seiner selbst. Es gibt nämlich auch so etwas wie eine gerechte Tötung von Menschen, die sich so verhalten haben auf der Erde, dass sie ihre Daseinsberechtigung selbst verwirkt haben.
4. In dieses Kapitel gehört eben auch diese übertriebene Verstehenslogik gegenüber Menschen, die Böses getan haben. Vertreter von Menschenrechten scheinen automatisch anzunehmen, dass kein Verbrechen an Menschen und an der Menschheit a priori so schlimm sei oder dazu führen soll, dass die Todesstrafe als gerechtes Mass verstanden wird. Dass Menschen andere Menschen foltern oder vergewaltigen, sonnenklar, muss von der Erde verbannt werden. Nichts rechtfertigt das Quälen von anderen Menschen. Doch sehr vieles rechtfertigt den Umstand, dass Menschenschinder nichts mehr auf dieser Erde verloren haben und kein Menschenrecht so dumm ausgelegt werden soll, dass man Gegenargumente geliefert bekommt. Diese Menschenfreundlichkeit über den Punkt hinaus, wo jedes Verbrechen noch zu wenig ist, als dass ein Mensch in den Tod zu schicken sei, ist ein Irrwitz einer verqueren Logik der Gutmenschlichkeit.
5. Es wird auch argumentiert, dass keine Macht mit Kriegsgewalt zu intervenieren hätte. Unter keinen Umständen seien Gewalt und Krieg eine Rechtfertigung, um mit gleichen Mitteln der Gewalt zurückschlagen zu dürfen. Nun denn: Dann lasst die Diktatoren weiterhin ihre eigene Bevölkerung verhaften, zu Tode foltern, hinrichten und ganze Minderheiten vertreiben und ausrotten. Wie man sieht, gibt es Rechtfertigungen zu Interventionen gegen alle die Hitlers, Pinochets und Milosevichs dieser Welt. Wenn niemand, der zu unsäglicher Gewaltherrschaft kommt, mit Reaktionen und Gegengewalt rechnen muss, dann ist unsere Zivilordnung der jetzigen Welt wirklich am Ende.
6. Ist Staatsgewalt immer schädlich? Ist es ein Verbrechen an den Menschenrechten, wenn eine relativ arme Gesellschaft ihre Mörder, Spielhöllenbetreiber, Verführer zu Korruption, Prostitution, Drogenkonsum usw. hinrichtet, statt sie mit Millionen von Geldwerten, wie in den westlichen Staaten, zu "besseren" Menschen zu resozialisieren, also auf Kosten jener Menschen, die eben noch befürchten mussten, dass sie als Teilhaber am sozialen Leben in den Tod, in die Prostitution, in die Casinos, in die Drogensucht usw. versetzt werden könnten durch skrupellose Mitglieder unseres Gesellschaftslebens? Ist hier etwa eine perverse Lust an der Verneinung des Bösen im Spiel? Viele Menschen wollen irgendwie den guten Gott spielen, wollen schlechte Taten von Einzelnen mit guten Taten des Kollektivs "ausgleichen" - trotz absehbarer jämmerlicher "Erfolgsdaten". Dabei sollten wir endlich verstehen: Es braucht auch eine Gerechtigkeit in der Anwendung der Ungerechtigkeit. Dies denke ich immer, wenn Erschiessungen von Verbrechern (nicht von demokratischen Regimegegnern) in China in den gleichen Topf geworfen werden wie massenhafte, von West- oder Ostregierungen geschützte Folterungen und Tötungen in einzelnen anderen "freundschaftlich verbundenen und privilegierten" Ländern. Eine gewollte Täuschung der Rechtspflege durch die vorherrschende Politik der Mächtigen.
Wie man sieht, ist alles relativ. Sogar die Menschenrechte. Es geht nicht darum, jedem "Opfer" einfach helfen zu wollen, sondern abzuklären, was vor sich geht und im Rahmen einer intelligenten Lagebeurteilung gerecht zu intervenieren. Das oberste Prinzip kann niemals das Prinzip der Einhaltung der Menschenrechte sein, die je nach Situation als Menschenrechte oder als Menschenunrechte gesehen werden können, gefärbt durch eine willkürliche politische Brille, sondern die Gerechtigkeit, als absolut unpolitisch betrachtete Grundidee, muss in Anbetracht aller Umstände das Handeln und Denken aller Menschen, und insbesondere der politisch Mächtigen, diktieren. Sonst erleben wir wieder einmal die Zweiteilung der Welt: Jener Teil, wo zu recht oder unrecht interveniert wird, und jener Teil der Menschheit, wo jede Ungerechtigkeit und Ungeheuerlichkeit hingenommen wird. Und dann erkennen wir endlich, dass die indirekte, nicht sofort erkennbare Art von wirtschaftlicher, ethischer und/oder ökologischer Macht viel mehr Schaden stiftet in Bezug auf die Lebensfähigkeit der heutigen Menschheit und vor allem in Hinsicht auf die zukünftigen Generationen als das zufällige Herauspicken von Einzelschicksalen, wo häufig die Optik verschiedenartig sein müsste, je nachdem, was diese Menschen wirklich getan haben.
Wir sehen uns wieder einmal, wie immer, wenn ich mich denkerisch einmische, vor einer Vielzahl von Dilemmas, die durchdacht werden müssen, damit die Relativität von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit erst auf den Punkt gebracht wird. Denn ohne ein fundamentales Grundprinzip, wann und wo und warum menschenrechtlich zu intervenieren ist, werden Energien verschleudert für falsche oder niedrigschwellige Zwecke, die darob vergessen machen, was im Grossen für unendlich grössere Verbrechen an der Menschheit geschahen und geschehen, Tag für Tag, die hinsichtlich ihrer Langzeitwirkung auf die Zukunft in keiner Weise je richtig interpretiert worden sind.
